"Papa, hast du noch Dinosaurier gesehen?"
Stunden oder Tage sind für Kleinkinder Begriffe ohne Bedeutung,
Jahrzehnte so abstrakt wie Jahrmillionen.
Erst langsam erarbeitet sich ein Mensch das Gespür für die Zeit.
VON JÖRG BÖCKEM
Das blonde, quirlige Mädchen kommt aufgeregt zu seinem Vater gerannt. "Ist es schon halb sechs?", fragt es. Um halb sechs darf es eine DVD ansehen. "Noch eine halbe Stunden", sagt der Vater. Zehn Minuten später quengelt es schon wieder: "Ist es jetzt halb sechs?"
Maria ist sieben, ihre Mutter hat ihr eine Kinderuhr geschenkt, mit Prinzessin Lillifee darauf. Maria mag Lillifee, die Uhr mag sie weniger. Sie ist ihr ein Rätsel. Fragt ihre Mutter sie nach der Uhrzeit oder lässt sie Zeiteinheiten schätzen, rät sie wild drauflos: Minuten oder Stunden bedeuten ihr nichts.
Ihre gleichaltrige Freundin Clara dagegen findet sich schon ganz gut auf dem Zifferblatt zurechnt. "Du kommst 15 Minuten zu spät", hat sie kürzlich ihren Vater gescholten. Marias Mutter sorgt sich um die Entwicklung ihrer sonst klugen und aufgeweckten Tochter.
Paul ist 14 Jahre alt, aber auch er empfindet die Zwänge der Zeit oft als Zumutung. Wenn ihn sein Vater morgens um halb sieben wecht, fählt er sich, als wäre ihm der Himmel auf den Kopf gefallen. Am Frühstückstisch ist er kaum ansprechbar, immer wieder klappen ihm die Augen zu. Abends, wenn ihn sein Vater um halb elf auffordert, das Licht zu löschen, dauert es oft noch eine Stunde, bis er einschläft.
Für Kinder und Jugendliche ist es ein Kreuz mit der Zeit, vor allem mit der Uhr. Ein erstes Gefühl für serielle Abläufe und damit für das Fortschrieten der Zeit, vermuten Entwicklingspsychologen, entwickeln Kinder mit wenigen Monaten.
"Wenn wir einen Gegenstand hinter eine Verdeckung führen, springen die Augen der Kinder an das Ende der Verdeckung in der Erwartung, dass der Gegenstand dort wieder sichtbar wird", erklärt Sabina Pauen, Leiterin der Abteilung für Entwicklungspsychologie am Psychologischen Institut in Heidelberg. "Dabei handelt es sich um eine rudimentäre Zukunftsvorstellung - etwas, was ich beobachte, setzt sich in der Zukunft fort."
Kinder leben in den ersten Jahren ganz im Hier und Jetzt. Der Marienkäfer auf dem Finger ist wichtiger als der drängende Termin der Eltern. Selbst einfache Zeitbegriffe wie "später" oder "bald" haben zunächst keine Bedeutung für das kindliche Bewusstsein.
Den ersten wichtigen Schritt in Sachen Orientierung in der Zeit machen Kinder gegen Ende des zweiten Lebensjahres, sagt der Münchner Entwicklungspsychologe und Frühpädagige Hartmut Kasten.